Book Review

EVA MENASSE. Vienna. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2005. 428. € 19,90. [Focus on German Studies 13 (2006): 169-172.]


„Das Angenehme an Berlin ist, dass es so wahnsinnig groß ist und viel Platz lässt, auch zum Denken, im Gegensatz zu Wien,” erklärt Eva Menasse in einem Interview mit dem deutschen Fernsehsender 3Sat. Und so hat wieder einmal ein junges, österreichisches Schreibtalent der jungen AutorInnen allgemeinhin wenig wohlwollend gesonnenen österreichischen Verlagslandschaft den Rücken gekehrt, um in deutschen Landen Karriere zu machen. Sprachlich bewegt Menasse sich allerdings nach wie vor auf österreichischem Terrain. Wie andere österreichische AutorInnen vor ihr, liefert sie im Anhang des Romans deshalb auch eine (unvollständige) Vokabelliste, die die wichtigsten österreichischen Wörter ins Hochdeutsche übersetzt und sie dadurch ihres idiolektalen Charmes beraubt.
Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin beim Nachrichtenmagazin “Profil” in Wien. Sie wurde Redakteurin der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” und begleitete den Prozess um den Holocaust-Leugner David Irving in London. (Das Buch dazu wurde im Jahr 2000 als Der Holocaust vor Gericht. Der Prozess um David Irving im Berliner Siedler Verlag veröffentlicht.) Nach einem Aufenthalt in Prag arbeitete Menasse als Kulturkorrespondentin in Wien. In Kooperation mit Robert und Elisabeth Menasse bzw. Gerhard Haderer erschienen 1997 Die letzte Märchenprinzessin. Moderne Mythen, reale Märchen und 1998 Der Mächtigste Mann. Seit 2003 lebt die Autorin in Berlin.
Vienna ist Eva Menasses erste literarische Veröffentlichung. Darin porträtiert sie auf amüsant wie kurzweilige Art mehrere Generationen einer jüdischen Familie in Wien. Der Vaterstadt der Autorin kommt dabei, wie sich schon am Titel ablesen lässt, eine besondere Rolle zu: „Es war mir sehr wichtig, die Stadt über ihre Menschen zu porträtieren [...], aus denen sich Wien in meinem Kopf zusammensetzt.” Es ist das Wien der Vorkriegszeit, in dem die Juden im Kaffeehaus Kartenspielen (wie die Großeltern der Erzählerin), das Wien während des Krieges, aus dem die Juden fliehen (wie der Vater, Onkel und die Tante der Erzählerin) oder entfernt und ermordet werden (wie zahlreiche Verwandte der Erzählerin) und schließlich das Wien der Nachkriegszeit, in dem nur eine Handvoll Juden überlebt haben und in das nur wenige Juden zurückgekehrt sind.
Der mit 428 Seiten um eine Spur zu lang geratene Roman handelt in 17 Kapiteln von der Familie der namenlos bleibenden Erzählerin, die sich selbstkritisch als „die Zuschauerin [und] perfekte Erbin der Frieda-Oma, alles nachgezählt und nachgeprüft, aber kein Gramm Inspiration,” bezeichnet (388).
„Against all odds“ ist das „geheime Thema” (107) der klassischen Familienanekdoten, auf die sich Menasses autofiktionaler Roman stützt. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit überleben die Großeltern der Erzählerin den zweiten Weltkrieg in Wien. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit wird nach dem Krieg der Vater der Erzählerin österreichischer Fußballstar, Lichtdouble für Orson Welles und schließlich erfolgreicher Geschäftsführer eines „Ramschladens.” Als Achtjähriger war er gemeinsam mit seinem älteren Bruder auf einem der Kindertransport-Züge nach England geflohen, um dem Holocaust zu entkommen. Nach neun Jahren kehrte er nach Wien zurück, der deutschen Sprache kaum mehr mächtig und der österreichischen Kultur bzw. seiner Familie entfremdet. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit bricht diese Familie schließlich nach einem Familienstreit, in dem eine Seite die jüdische Identität der anderen anzweifelt, auseinander.
Das Erzählen und Weitergeben der Geschichten hält das Familiengefüge bis zum alles auflösenden Eklat zusammen. Als Kind in der „wortgewaltigen Familie,” deren Sprüche und Anekdoten die Erzählerin wiedergibt, hatte sie sich nur eines gewünscht, „eine eigene Meinung” (388). Jedoch musste dieser Wunsch unerfüllt bleiben, denn in dieser Familie, „wo das Faktische oft ungewiss war, wo alles nur gut und ganz wurde, wenn man es zu einer Geschichte mit einer Pointe machen konnte,” (389) da kann man sich keine eigene Meinung leisten.
Und wirklich scheinen die Nachkommen der Kriegsgeneration vereinnahmt, ja geradezu besessen, vom Leben, den Freuden und vor allem den Leiden der vorhergehenden Generationen zu sein. Als Historiker spezialisiert sich der Bruder der Erzählerin auf den Nationalsozialismus und entlarvt in einer seiner Publikationen den in Österreich vergötterten Skiverbandpräsidenten als ehemaligen Naziverbrecher. Die Figur des Bruders erinnert stark an Robert Menasse, den Halbbruder der Autorin. Als Historiker und Autor bereichert dieser in Essaysammlungen wie Das Land ohne Eigenschaften (1992), Erklär mir, Österreich (2000) oder zuletzt Das war Österreich (2005) die deutschsprachige Literaturszene seit Jahren mit seiner scharfsinnigen Österreichkritik.
In Vienna lernt die vom Krieg nicht mehr unmittelbar betroffene Generation, sich über die Familie und die über sie ausgetauschten Erzählungen zu definieren. Erst eine Angehörige der dritten Generation erkennt: „Ihr habts doch alle einen Vergangenheitswahn” (391) und stellt die schonungslose rhetorische Frage, die sie auch gleich selbst beantwortet: „Was aber ist unsere Familiengeschichte? Sie besteht doch nur aus geschönten Anekdoten einerseits, aus um so auffälligeren Lücken andererseits. Das bildet doch keinen Zusammenhalt, das ist doch nur blödes Gerede” (ebda.). Der Streit um die jüdische Identität setzt dem Geschichtenerzählen im Familienkreis ein Ende und führt dazu, dass sich die Wege der einzelnen Familienmitglieder zerstreuen.
In seinem Artikel “Identity and the Life Story,” definiert der Entwicklungspsychologe Dan P. McAdams Identität als eine Art Geschichte, die mit einem Ort, Szenen, Charakteren, Themen und Handlungsabläufen komplett ausgestattet ist. Lebensgeschichten, so McAdams, basieren auf autobiografischen Fakten, aber sie gehen über diese hinaus. Wenn Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen, wählen und interpretieren Sie diejenigen Situationen, die ihnen für sich selbst und ihre ZuhörerInnen (bzw. LeserInnen) am sinnvollsten erscheinen. In bestimmter Hinsicht, schlussfolgert McAdams, basiere Identität auf Selektion und Interpretation und deshalb sei Identität auch zu einem gewissen Teil ein Produkt freier Wahl. Dementsprechend hält Eva Menasse gegen Ende des eingangs zitierten 3Sat-Interviews fest: "Vienna ist kein Schlüsselroman über meine Familie.. [...] Vielleicht wollte ich meine Familie gerne auch so haben, wie sie jetzt in dem Roman ist.” Möglicherweise hat Menasse die internationale Bezeichnung für Wien aus ähnlichem Grund als Titel ihres beeindruckenden wie lesenswerten Debuts gewählt: Vienna ist Wien, wie es sich die Autorin wünscht: eine angenehme Stadt mit viel Platz, auch zum Denken.

University of Cincinnati Julia K. Baker

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